Die aktuelle Lage an der Front

Von Nikolay Mitrokhin (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

Die Lage an der Front wird seit November 2023 halboffiziell mit den Worten »strategische Sackgasse« beschrieben. Die große ukrainische Gegenoffensive, die für den späten Frühling 2023 an der Saporischschja-Front im Süden geplant war, in vollem Umfang jedoch erst im Juni begann, scheiterte bereits von Anfang an. Bei den erfolglosen, aber hartnäckigen Versuchen, die gut vorbereitete und befestigte russische Frontlinie zu durchbrechen, verloren die ukrainischen Streitkräfte in vier Monaten heftiger, allerdings gleichförmiger Angriffe in Kleingruppen, Soldat:innen im Umfang von zwei Armeekorps sowie eine große Menge westlichen und ukrainischen Kriegsgeräts. Befreit wurden allerdings nur zwei unbedeutende Steppenstreifen von jeweils ca. 10 mal 15 bzw. 17 Kilometern mit einem Dutzend zerstörter Dörfer. Wesentlich erfolgreicher waren die ukrainischen Landungsoperationen am linken Ufer des Dnipro. Dadurch konnten die ukrainischen Streitkräfte (trotz des mutmaßlich von russischen Kräften gesprengten Staudamms bei Kachowka) viele Inseln im Flussbett des Dnipro wieder unter ihre Kontrolle bringen. Auch wurden einige kleinere Brückenköpfe am linken Ufer geschaffen. Im Bereich dieser Stellungen ist es nun allerdings die russische Armee, die bei Versuchen, die ukrainischen Kräfte zurück über den Dnipro zu treiben, viel Gerät verliert. Die ukrainischen Einheiten nutzen dabei den Schutz durch eigene Artillerie und Drohnen, die vom höhergelegenen rechten Ufer operieren. Dennoch sind die ukrainischen Streitkräfte ein ums andere Mal nicht in der Lage, den Nachschub auf einem Niveau zu sichern, um ein Vorrücken in die Tiefe der russischen Verteidigungsstellungen zu ermöglichen und schweres Gerät und Artillerie über den Fluss zu transportieren. Diese Situation führt zu erheblichen Verlusten der dort befindlichen Infanterie und zu entsprechenden Versorgungsschwierigkeiten.

Ukrainische Erfolge…

Der erfolgreichste Teil der ukrainischen Sommeroffensive war schließlich die Vertreibung der russischen Schwarzmeerflotte, und zwar zunächst aus dem westlichen Teil des Schwarzen Meeres und dann aus deren Stützpunkten auf der Krim (zumindest von deren westlichen Teil). Das erfolgte aufgrund einer gut durchdachten und konsequenten ukrainischen Strategie und dem Einsatz moderner innovativer Technologien (Angriffsdrohnen zu Wasser und in der Luft, von westlichen Verbündeten gelieferte Langstreckenraketen, hochwertige Aufklärung per Satellit und aus der Luft). Zudem wurden russische Stellungen und Schiffe im Schwarzen Meer systematisch und erfolgreich angegriffen und die wichtigsten Elemente der Luft- und Raketenabwehrsysteme auf der Krim und in den benachbarten Gebieten vernichtet. Zuletzt wurde am 14.02. das Landungsschiff »Caesar Kunikow« mit Seedrohnen angegriffen und versank daraufhin vor der Küste der Krim. Es erfolgten auch Angriffe auf Stellungen auf der Krim, vor allem auf das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte in Sewastopol mit Hilfe diverser Waffensysteme.

Die Gründe für Misserfolge in einer Richtung und Erfolge in einer anderen lassen sich wohl durch die jeweils unterschiedliche Zuständigkeit im militärischen Apparat erklären. Die Streitkräfte des Heeres unterstehen vollkommen dem Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte Walerij Saluschnyj bzw. dessen Nachfolger, Oleksandr Syrskyj, während auf dem Schwarzen Meer die Flotte, die Raketeneinheiten und der Militärgeheimdienst (HUR) operieren (die teils für Marineoperationen, teils für Angriffsdrohnen aus der Luft zuständig sind). Dementsprechend lassen sich zwei militärische Führungsstile feststellen. An der Südfront bei Saporischschja wird die kontinuierliche und schon nicht mehr wirkungsvolle Taktik des Oberkommandos verfolgt, in »Kleingruppen« und in Richtungen anzugreifen, die dem Gegner bereits bekannt sind. Im Schwarzen Meer hingegen erfolgen ständige Experimente unter Einsatz diverser Waffensysteme, die unterschiedlich kombiniert werden und sich jedes Mal gegen unerwartete Ziele richten. Das gewährleistet hier die Wirksamkeit.

Bis zum Januar 2024 hat die Ukraine rund 20 Prozent der gesamten russischen Schwarzmeerflotte versenkt (unter anderem einige große Schiffe der ersten Kategorie), eine Vielzahl teurer und seltener Luftabwehrsysteme außer Gefecht gesetzt (unter anderem ein Frühwarn- und Fernlenksystem an Bord einer Berijew A-50 und eine Kommandozentrale an Bord einer Iljuschin IL-22M) sowie einen beträchtlichen Teil der Residenz der Flottenleitung in Sewastopol zerstört.

… und Misserfolge und Probleme

Darüber hinaus führten die Misserfolge und die Verluste ukrainischer Kräfte, die es im Sommer 2023 an verschiedenen Stellen der Festlandsfront gab, wie auch die verspäteten westlichen Waffen- und Munitionslieferungen dazu, dass die ukrainischen Streitkräfte unter einem heftigen Mangel an Personal, Munition und Gerät leiden. Daher besteht erstens eine zentrale Frage darin, wie neue Ersatzkräfte für die Armee mobilisiert werden können, um jene abzulösen, die bereits anderthalb oder zwei Jahre an der Front kämpfen. Das zweite große Problem ist, dass die ukrainischen Streitkräfte aktuell nur ein Fünftel der Munition einsetzen können, die die russischen Einheiten verfeuern (vgl. Grafik 2, S. 30). Außerdem verfügt die ukrainische Armee nicht über genügend schweres Gerät, um eine neue Offensive zu starten. Die Ukraine hält dennoch weiterhin an ihrem politischen Ziel fest, das Land militärisch bis zu den Grenzen von 1991 zu befreien.

Das Jahr 2023 hat allerdings gezeigt, dass dies kaum möglich sein wird. Die russischen Streitkräfte haben im gesamten Frontverlauf mächtige Verteidigungsstellungen errichtet. Nach den Vorstößen ukrainischer Sabotage-Gruppen in grenznahe russische Gebiete, die im Frühjahr und Sommer 2023 erfolgten, hat Russland auch die langgestreckte ukrainische Grenze zu den Gebieten Brjansk, Kursk und Belgorod befestigt.

Während die ukrainischen Streitkräfte zwar unter gewissen Voraussetzungen auf erfolgreiche Landungsoperationen ans linke Ufer des Dnipro und die Befreiung einiger Gebiete hoffen können (etwa der Kinburn-Halbinsel und der gleichnamigen Nehrung, die vom rechten Dnipro-Ufer leicht zu beschießen sind), kann von einer Befreiung des Donbas kurz- und mittelfristig keine Rede sein. Eine Stürmung der Ballungsräume Donezk und Luhansk wäre von keiner Armee der Welt zu stemmen, weil dies eine riesige Menge Munition erforderte und unter den anstürmenden Truppen zu Zehn- wenn nicht gar Hunderttausenden Toten führen würde.

Russland diskutiert neue Vorstöße

Die praktischen Aufgaben, vor denen die ukrainischen Streitkräfte stehen, sind ganz andere. Die russischen Streitkräfte, die vom Frühjahr bis Herbst 2023 Reserven angesammelt und von der russischen Rüstungswirtschaft neues Gerät erhalten haben (nach westlichen Schätzungen werden in Russland monatlich etwa 130 neue Panzer produziert; Nordkorea und Iran liefern beträchtliche Munitionsvorräte, vor allem Artilleriegranaten), gehen seit November sowohl an der Donezker Front bei Awdijiwka wie auch weiter nördlich (in der Gegend von Bachmut, Kreminna und Kupjansk) offensiv vor. Ihre Erfolge sind zwar nicht groß, insbesondere, wenn man die enormen Verluste berücksichtigt (vgl. Grafik 3, S. 30), doch konnten sie einige Siedlungen einnehmen und fast alles zurückerobern, was im Zuge der ukrainischen Sommeroffensive in der Gegend von Bachmut verloren gegangen war. Das wichtigste (politische) Ziel ist ein Vorrücken bis zu den administrativen Grenzen des Gebietes Luhansk (hier fehlen buchstäblich nur noch ein paar Kilometer bei einer Frontlänge von 50 Kilometern). Das gleiche gilt für das Gebiet Donezk (dort müssten allerdings auf einem Gebiet von 100 mal 30 Kilometern über ein Dutzend Städte erstürmt werden). Angesichts der verfügbaren Ressourcen und des Tempos, mit dem die russischen Truppen vorrücken, erscheint das aktuell aber absolut unrealistisch. Selbst wenn Russland neue Stoßtruppen aufstellen und ausrüsten sollte, würde es mehrere Jahre benötigen, die mächtigen ukrainischen Befestigungen in dieser Region zu stürmen.

In Russland wird jetzt (auch öffentlich) diskutiert, welche Aussichten es hätte, Reserveeinheiten in den Nordosten der Ukraine zu schicken, in die Grenzregionen der Gebiete Charkiw, Sumy und Tschernihiw. Man könnte dadurch eine Art »Pufferzone« einrichten, die die Intensität ukrainischer Angriffe auf die grenznahen Regionen Russlands verringern würde. Für die ukrainischen Streitkräfte, den Grenzschutz und die Einheiten der Territorialverteidigung, die die Grenzen sichern, wäre ein solcher Vormarsch zweifellos eine Herausforderung, da in der bewaldeten Grenzregion schon jetzt russische Sabotage- und Aufklärungsgruppen unerkannt bis zu fünf, zehn Kilometer auf ukrainisches Territorium vordringen. Das bedeutet, dass es dort trotz aller Erklärungen der militärischen und politischen Führung der Ukraine immer noch keine systematischen Befestigungen und Minenfelder gibt.

Ausblick

Somit dürfte die (bereits verkündete) Taktik der ukrainischen Streitkräfte für 2024 darin bestehen, russische Vorstöße an Land abzuwehren, Russland auf der Krim und dem Schwarzen Meer weiter unter Druck zu setzen (womöglich werden die Russen nicht nur ihre Flotte von der Krim abziehen müssen, sondern auch einen großen Teil der Luftwaffe) und die eigene Armee mit Mobilisierten und Kriegsmitteln aufzufüllen. Die Taktik der russischen Streitkräfte dürfte offensichtlich darauf hinauslaufen, die ukrainischen Truppen an einigen Schlüsselstellen der Donezker Front permanent unter Druck zu setzen (vor allem bei Awdijiwka, in Richtung Lyman und westlich von Bachmut). Sie werden wohl auch weiterhin versuchen, die ukrainischen Stellungen am linken Dnipro-Ufer zu beseitigen und womöglich im ersten Halbjahr in die Wälder im Nordosten der Ukraine vorzudringen, um die erwähnte Pufferzone zu schaffen. Letzteres würde den Bewohner:innen der Grenzregion zwar wenig helfen, dürfte aber die Eitelkeit der russischen zivilen und militärischen Bürokrat:innen durch die Illusion eines lokalen »Sieges« befriedigen.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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