Deutungsmuster der »Filtration« in der Ukraine und in Russland
In den ukrainischen Medien tauchte der Begriff »Filtration« bereits Mitte März 2022 im Zusammenhang mit den von Russland angekündigten »Evakuierungsmaßnahmen« für die ukrainische Bevölkerung der Stadt Mariupol nach Russland auf. Die ukrainische Seite betrachtet die (ggf. auch zwangsweise) Verbringung von Menschen aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland als Deportation, die von Russland bewusst vorgenommen wird. Mit dem Begriff der »Filtration« wird in diesem Kontext die Überprüfung ukrainischer Bürger beschrieben, bevor sie das Gebiet Russlands betreten dürfen. Auch etwaige Überprüfungsvorgänge in den russisch besetzten Gebieten werden unter dieser Bezeichnung subsumiert. Nach der Auslegung der Ukraine handelt es sich bei dieser Art von »Filtration« um die Nötigung ukrainischer Staatsbürger, sich einer erniedrigenden Überprüfungsprozedur zu unterziehen. Dabei müssen sie sich in die Hände des Aggressors begeben, der sie willkürlich durchsuchen, psychisch und physisch misshandeln und von der Außenwelt isolieren kann. Eine Analyse der ukrainischen Presse ergibt, dass der Begriff der »Filtration« im ukrainischen Diskurs daher extrem negativ konnotiert und emotionalisiert wird. Die »Filtrationslager« werden vielfach mit dem Lagersystem Nazi-Deutschlands assoziiert (von denen es zwischen 1941–1944 mehrere Hundert Einrichtungen in der Ukraine gab). Die Ukraine fordert den Zugang internationaler Organisationen zu diesen Einrichtungen zur Aufklärung von Taten Russlands, die sie als Kriegsverbrechen wertet, und beruft sich dabei auf die Artikel 42 (Bedingungen für die Internierung) und 49 (Verbot von Zwangsumsiedlungen) der Genfer Konvention IV und auf den Artikel 147 des ersten Zusatzprotokolls (Schutz von Personen in Kriegszeiten).
Die russische Seite bestreitet die ukrainische Auslegung der Tatsachen. Der Botschafter Russlands bei den Vereinten Nationen, Wassili Nebensja, wies die ukrainischen Anschuldigungen über »unmenschliche Filtrationsmaßnahmen« zurück und behauptete, dass der Begriff der »Filtrationslager« von der Ukraine erfunden sei und es sich lediglich um »Aufnahmeeinrichtungen für ukrainische Geflüchtete« handele. Offiziell behauptet Russland, dass das Land keinerlei Deportationen und Zwangsumsiedlungen der ukrainischen Bevölkerung vornimmt, sondern ausschließlich »Evakuierungsmaßnahmen« trifft, im Rahmen derer Menschen nur »registriert« und nicht »filtriert« werden. Trotz der Bemühungen offizieller russischer Stellen, sich vom Begriff »Filtration« zu distanzieren, ergab eine Untersuchung des staatlichen Pressespiegels Russlands (RIA, Radio Sputnik, TASS), dass »Filtration« als neutraler Begriff der Bürokratie genutzt wird. Nach Lesart der russischen Presse handelt es sich dabei lediglich um eine triviale Sicherheitskontrolle, die vor allem dazu dient, »ukrainische Militärangehörige«, »Geheimdienstagenten« und »Mitglieder nationalistischer Verbände« aufzudecken.
Das Filtrationssystem: Arten, Gründe und Einrichtungen der Filtration
Bezogen auf den Gesamtumfang des russischen Filtrationssystems scheinen die Ermittlung genauer Zahlen und eine zweifelsfreie Funktionszuweisung aufgrund mangelnder Zugangsmöglichkeiten aktuell unmöglich zu sein. Neben Berichten von Menschenrechtsorganisationen wie »Human Rights Watch« (siehe Dokumentation, Anm. d. Red.) liegt ein Bericht des Yale School of Public Health’s Humanitarian Research Lab (Yale HRL) vom August 2022 vor, der für das Gebiet Donezk auf Basis von Augenzeugenberichten und Bildauswertungen eine Bestandsaufnahme von »Filtrationseinrichtungen« versucht. Danach werden mindestens 21 Einrichtungen auf russisch kontrolliertem Territorium der Oblast Donezk und den benachbarten Regionen »zu Filtrationszwecken« betrieben (siehe Karte). Yale HRL unterscheidet vier Typen dieser Einrichtungen nach ihrer jeweiligen Funktion. Darunter befinden sich Einrichtungen zu den Zwecken (1) der Registrierung, (2) des Aufenthalts und der vorübergehenden Unterbringung, (3) des (wiederholten) Verhörs und (4) der Inhaftierung. Die Autoren des Berichts merken dabei an, dass jede Einrichtung jederzeit zu mehreren Zwecken genutzt werden kann und dass sich ihre Funktionen mit der Zeit verändern können.
Für diesen Artikel wurden darüber hinaus im Oktober/November 2022 Augenzeugengespräche mit Menschen aus den Gebieten Cherson, Melitopol und aus Mariupol geführt, die sich teilweise noch vor Ort befinden und teilweise die besetzten Gebiete inzwischen verlassen haben.
Aus der Analyse von offen zugänglichen Quellen, Bildern und diesen Berichten von Augenzeugen erschließt sich ein grobes Gesamtbild des Filtrationsprozesses. Die erste Anlaufstelle (meist eine Halle oder auch ein Zelt) dient lediglich der Registrierung von Person, die sich für die »Filtration« melden. Es folgt im nächsten Schritt eine Wartezeit bis zur Aufnahme des bürokratischen Vorganges. Diese kann sich zeitlich und räumlich sehr unterschiedlich darstellen, da die Wartezeiten sehr unterschiedlich ausfallen: Aufenthalte für mehrere Stunden in einem von Augenzeugen so genannten vergitterten »Käfig« sind ebenso möglich wie die temporäre Aufnahme für mehrere Tage, Wochen oder sogar Monate in einer lagerartigen Unterkunftsstelle. Die Erzählungen von Augenzeugen, die eine Filtration durchlaufen haben, variieren zwar in Details, beschreiben aber im Kern ein einheitliches Muster eines »Filtrationsprozesses«.
Es können zwei Arten der Filtration unterschieden werden: 1) »Vor-Ort-Filtration« in den nach Februar 2022 besetzten Gebieten und 2) »Grenzübergangsfiltration« als Mittel der Grenzkontrolle vor der Einreise auf von Russland beanspruchtes oder annektiertes Gebiet, nach Russland und in die unbesetzte Ukraine.
»Vor-Ort-Filtration«
Die Filtration dieser Art ist für die Stadt Mariupol und die besetzten Gebiete von Cherson (der Artikel wurde vor der Befreiung der Stadt Cherson und den westlich des Dnjepr gelegenen Territorien der gleichnamigen Oblast am 11.11.2022 fertiggestellt, Anm. d. Red.) und Melitopol dokumentiert. Sie stellt eine Art Volkszählung dar und dient zugleich als Voraussetzung für Reisen innerhalb der von Russland besetzen Gebiete. In Mariupol wurde die in der Stadt verbliebene Einwohnerschaft von der vor Ort aufgestellten »Stadtverwaltung« informiert, dass ein »Filtrationsnachweis« notwendig sei, selbst wenn sie nicht vorhätten auszureisen. Nach Aussagen einer Augenzeugin wird ein solcher Nachweis benötigt, um sich frei in der Stadt bewegen zu dürfen. Anwohner, die von russischen Milizen ohne ein solches Papier angetroffen werden, können zur Untersuchung unter Zwang in eine von mehreren »Filtrationseinrichtungen« gebracht werden. Als Durchführungsorte von »Vor-Ort-Filtrationen« sind für den Bereich Mariupol mindestens fünf Einrichtungen identifiziert worden, in denen Filtrationsbescheinigungen ausgegeben werden, in denen neben Namen, Geburts- und Ausstellungsdatum noch angegeben ist, in welcher Filtrationseinrichtung diese ausgestellt wurde und dass Fingerabdrücke abgenommen wurden. Mit dieser Bescheinigung müssen sich die Betroffenen in der Folge an die Kommandantur von Mariupol wenden, um weitere Bescheinigungen zu erhalten, um sich im besetzten Oblast Donezk und in der Stadt Mariupol zu bewegen.
Diese »Vor-Ort-Filtration« scheint gleichzeitig für verschiedene Zwecke der Besatzer nützlich. Sie erhalten einen Gesamtüberblick über die vor Ort lebende Bevölkerung und können deren kompletten Personendaten (Fingerabdrücke, Fotos, Pässe und private Informationen von ihren kurzfristig in Obhut genommenen Datenträgern) erfassen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Sammlung dieser Daten zugleich als Grundlage zur Erhebung von Zensusdaten für die »Scheinreferenden« diente.
Eine solche Datensammlung – insbesondere durch das erzwungene Auslesen mobiler Digitalgeräte – ermöglicht es zugleich, den Unzufriedenheitsgrad der Bevölkerung und ihr Protestpotenzial einzuschätzen und zugleich diejenigen, die als verdächtig und illoyal gegenüber den russischen Besetzungsbehörden erscheinen, direkt zu internieren. Gleichzeitig beinhalten die Methoden der »Filtration« einen Einschüchterungseffekt gegenüber der örtlichen Bevölkerung. Bei verdächtigen oder nicht loyal erscheinenden Personen kann es jederzeit zum Einsatz des üblichen Instrumentariums russischer Geheimdienste kommen, das körperliche und psychische Gewalt, Folter und Inhaftierung einschließt.
Ein weiteres Ziel »der Filtration vor Ort« besteht für russische Besatzer offenbar in der Notwendigkeit, Menschen, die im öffentlichen Dienst der Ukraine tätig waren, von der Kollaboration zu überzeugen. Einige Augenzeugen berichten deswegen, dass das Verhör bei Menschen dieser Berufsgruppen (z. B. Lehrkräfte, Ärzte, Verwaltungsmitarbeiter) deutlich länger als bei den anderen dauert. Eine Ablehnung dieses »Angebots« kann unmittelbare Folgen bis hin zur Ermordung der betroffenen Person haben, wie das Beispiel des am 13.10.2022 in Cherson erschossenen Dirigenten Jurij Kerpantenko zeigt. Die vorstehend beschriebenen Abläufe sind für die zum Gebiet Donezk gehörende Stadt Mariupol nach deren Eroberung durch russische Kräfte ebenso dokumentiert wie für die Gebiete Cherson und Melitopol. Der »Filtrationsvorgang« selbst ist nach den Berichten von Augenzeugen der im Folgenden beschriebenen Vorgehensweise ähnlich.
»Grenzübergangsfiltration«
Ebenfalls als »Filtration« bezeichnet wird die einer Grenzkontrolle ähnliche Überprüfung von Menschen, die die besetzten Gebiete in Richtung Russland, auf die besetzte Krim oder in die Ukraine verlassen wollen. Die »Filtration« derjenigen, die auf das Gebiet der Krim oder nach Russland ausreisen wollen, stellt sich als strenger und intensiver in ihrem Untersuchungsvorgang dar. »Die Grenzübergansfiltration« für die Einreise in die Ukraine wird an den jeweiligen Blockposten in einem verkürzten Verfahren durchgeführt.
In die »Grenzübergangsfiltration« geraten vor allem Menschen, die aus den von Russland besetzten Gebieten mit eigenen Fahrzeugen oder mit Sammelbussen ausreisen wollen und dies nicht durch die Frontlinie tun können. Eine »Grenzübergangsfiltration« müssen auch diejenigen durchlaufen, die nicht selbstbestimmt ausreisen, sondern im Laufe der von Russland organisierten »Evakuierung« nach Russland oder in andere von Russland besetzte Territorien gebracht werden.
Eine Ausreise über die Krim nutzten bis zum Spätsommer 2022 auch wehrpflichtige ukrainische Männer im Alter zwischen 18–60 Jahren, die das Land über die ukrainisch kontrollierte Grenze nicht verlassen, aber mit einer Meldeadresse in den besetzten Gebieten ausreisen durften. Wie ein Augenzeuge berichtet, waren Busverbindungen durch die »graue Zone« zwischen den Frontlinien etwa zwischen Saporischschja und Cherson zu diesem Zeitpunkt an der Tagesordnung und wurden zunächst durch die ukrainische Polizei und durch den ukrainischen Sicherheitsdienst kontrolliert und dann bis an die Kampfzone von der Polizei begleitet. Da diese Fluchtlücke auch von der ukrainischen Regierung wahrgenommen wurde, wird seit dem August 2022 strenger darauf geachtet, wer in die besetzten Gebiete einreist. Von den Ausreisenden wird nun eine Bescheinigung von der Einberufungsbehörde verlangt, die bestätigt, dass die Person keiner Wehrpflicht unterliegt. Das bestätigen Augenzeugen, die weiter berichten, dass aktuell eine Meldeadresse in einem der besetzten Gebiete ohne eine solche Bescheinigung nicht mehr ausreicht, um ausreisen zu dürfen.
Die »Grenzübergangsfiltration« schließt alle Elemente des oben beschriebenen Prozesses ein – also Registrierung, Datensammlung, Informationsbeschaffung und Einschüchterung. Während die Suche nach potenziellen Kollaborateuren hier weniger relevant zu sein scheint, liegt der Hauptzweck der Kontrollen offenbar in der Vermeidung von Sicherheitsgefahren für das Regime in Russland. Einreisende, die die Überprüfung nicht erfolgreich bestehen, können jederzeit interniert, inhaftiert oder zurückgewiesen werden. Nach erfolgreich bestandener »Filtration« wird teilweise ein individueller »Fahrschein« ausgestellt, allerdings nicht in allen Fällen, z. B., wenn Menschen mit einem »Evakuierungsbus« weiterreisen.
Ablauf von Filtrationsprozessen
Der Filtrationsprozess
Nach der Ankunft in einer Filtrationseinrichtung kommt es zuerst zu einer Registrierung, bei der Pässe oder sonstige Ausweisdokumente kontrolliert werden. Von den Einreisenden muss eine Migrationskarte ausgefüllt werden, die dieselbe Form wie an regulären russischen Grenzkontrollen hat. Diese Migrationskarte erfasst persönliche Daten wie Vor-, Nach- und Vatersname, Geburtsdatum, Staatsbürgerschaft, Art des Personalausweises, Zweck der Einreise, Aufenthaltsdauer, Daten über den etwaigen Gastgeber in Russland und dessen Wohnort. Aus den Berichten einiger Augenzeugen geht hervor, dass bei dieser Registrierung ihre biometrischen Daten abgenommen wurden (Fingerabdrücke und Fotos), was aber längst nicht für alle dokumentierten Fälle gilt.
Nach dieser ersten Registrierung müssen die einreisenden Menschen ihre Pässe und ihr Gepäck zum Zwecke der Durchsuchung abgeben. Je nach Art und Ort der »Filtrationsstation« gestaltet sich der weitere Ablauf unterschiedlich und Wartezeiten von einigen Stunden bis hin zu einigen Wochen sind dokumentiert. Ebenso unterschiedlich gestaltet sich die räumliche Situation. Eine Schlange im Freien oder ein Warteraum sind ebenso dokumentiert, wie große Gitterkäfige, die an den Übergangsstellen von den neu russisch besetzten Gebieten auf die ebenfalls russisch besetzte Krim bekannt sind.
Die Vorgänge illustriert der Augenzeugenbericht einer Ausreise auf die Krim vom August 2022: Wie ein Ausreisender berichtete, warteten im Vorfeld seiner »Filtration« ca. 60 Menschen in einem solchen Käfig auf die »Vorladung zu einem Gespräch«, ohne weitere Informationen, was sie erwarten würde: »Keine Reaktion auf unsere Nachfragen, diese wurden komplett ignoriert. Das heißt, wir haben dort solche Fragen gestellt: wo, was, wie lange, was kommt als Nächstes. Sie haben uns wie Roboter geantwortet: ›Es wird ein Gespräch geben, es wird einige Zeit dauern‹. Das war alles. An diesen Satz werde ich mich wahrscheinlich bis ans Ende meiner Tage erinnern«. Nach einer erheblichen Wartezeit erfolgten ein Verhör und die Untersuchung der mitgeführten elektronischen Datenträger. Die Struktur der Befragung durch uniformierte Vernehmer kann aus den vorliegenden Augenzeugenberichten etwa wie folgt zusammengefasst und generalisiert werden:
- Fragen zur Person (Name, Alter, Wohnort, Beruf, Militärausbildung, Dienst in der ukrainischen Armee),
- Fragen zum persönlichen Umfeld,
- Fragen nach Kontakten zur ukrainischen Armee und »Nazi-Kontakten«,
- Fragen nach dem weiteren Reise- und Aufenthaltsplan,
- Fragen nach dem Verhältnis zu Wolodymyr Selenskyj, Wladimir Putin und der »Spezialoperation«.
Die Inhalte können offenbar je nach Persönlichkeit und Interessenlage des Vernehmers variieren. So wurden beispielsweise nicht alle Verhörten nach ihrem Verhältnis zu Putin und zur »Spezialoperation« befragt. Die Vernehmer treten (zumindest am Übergang zur Krim) in Uniformen des russischen Grenzschutzes ohne besondere Abzeichen auf und verfügen über Ausrüstung zur Erstellung von Film- und Fotomaterial.
Die beste Strategie, das Verhör möglichst problemlos zu überstehen, scheint es zu sein, eine absolut neutrale Haltung gegenüber allen Seiten des Konflikts darzustellen. Zeichen von Abneigung und Wut gegenüber den Vernehmenden können ein Anlass für Festnahme sein. Eine zu loyale Haltung kann dagegen der Anlass für ein Kollaborationsangebot oder verstärktes Misstrauen werden, insbesondere, wenn Indizien einer gegensätzlichen Sichtweise in den persönlichen Gegenständen entdeckt werden. Die Augenzeugen schätzten übereinstimmend ein, dass die Vorspiegelung einer apolitischen Haltung die erfolgversprechendste Strategie sei. Sie bestätigen außerdem, dass es in einigen Fällen zu einer körperlichen Untersuchung kommt, bei der sich die Menschen entkleiden müssen. Dies scheint aber keine Standardprozedur zu sein. Sie wird auf jeden Fall offenbar dann durchgeführt, wenn eine Person zugibt, Tätowierungen zu haben, die von russischer Seite auf ihren »Nazi-ideologischen Inhalt« geprüft werden. Einen weiteren Anlass für eine Körperuntersuchung bietet, insbesondere bei Männern, die Suche nach Spuren von Waffenbenutzung.
Zur Standardprozedur gehört dagegen eine Durchsuchung aller mobilen Datenträger (Smartphone, Laptop, Tablet), die zusammen mit allen Zugangsdaten an die Vernehmer abgegeben werden müssen. Geprüft werden Kontakte, Fotos, Apps, Postings und Chats in allen sozialen Netzwerken und Messengern. Wie ein Augenzeuge berichtet, wurde sein Telefon, nachdem er alle Passwörter dafür zur Verfügung gestellt hatte, in seiner Anwesenheit ca. 30–40 Minuten lang schweigend von einem »Offizier« durchsucht. Dann sei er aus dem Raum geleitet und zurück in den »Käfig« gebracht worden, wo er noch weitere zwei Stunden warten musste. In dieser Zeit seien seine digitalen Geräte offenbar von einer Software gescreent worden, die nach den Aussagen der Vernehmer zeigen sollte, was vor kurzem vom Handy gelöscht wurde. Aus dem Bericht einer Augenzeugin aus Mariupol geht hervor, dass komplett »leere« Mobiltelefone ohne Fotos und Apps sozialer Medien als extrem verdächtig angesehen werden und zu Spekulationen über vorheriges Löschen bestimmter Inhalte führen.
Die befragten Augenzeugen bestätigten übereinstimmend, dass sich vor der »Filtration« russlandkritische und ukrainefreundliche Inhalte wie Likes unter russlandkritischem Content, blau-gelbe Symbolik oder Putin verspottende Memes auf ihren Smartphones befanden. Diese waren jedoch zur Vorbereitung der »Filtration« gelöscht worden und konnten auch nicht wiederhergestellt werden. Diese Tatsache deutet darauf hin, dass die Androhung, auch gelöschte Inhalte sehen zu können, eher als ein Mittel des psychologischen Drucks beim Verhör eingesetzt wird. Damit wird offenbar der Versuch gemacht, die befragte Person einzuschüchtern, damit sie etwaige verschwiegene Tatsachen und Meinungen von sich aus offenlegt. Den Zugriff auf bereits gelöschte Daten zu bekommen kann dennoch gelingen. Dies kann in einigen Fällen durch die Wiederherstellung eines Betriebssystems auf ein früheres Datum gelingen. Dies braucht allerdings keinen Einsatz »besonderer Software«, mit der von den Offiziellen gedroht wird.
Nach der Filtration
Sofern die »Filtration« erfolgreich bestanden wurde, erhält die betroffene Person ihren Pass und persönliche Gegenstände zurück und kann die Filtrationseinrichtung zumeist mit einem Verkehrsmittel ihrer Wahl verlassen. Wird hingegen ein Verdacht erregt, kann es zur Internierung oder zur Rückführung ins besetzte Gebiet der Ukraine kommen. So berichtet ein Augenzeuge über einen Bekannten, der über die Krim nach Russland ausreiste: »(…) er wurde für zwei Tage auf der Krim verhaftet. Er verbrachte zwei Tage in dieser Filtrationseinrichtung, weil er einen Kontakt in seinem Telefonkontaktbuch hatte, der entweder ›Wasja oder Kolja Pentagon‹ hieß. Wir haben einen solchen Bezirk in Mariupol. Und wir alle nennen ihn so. Wir hatten den Bezirk ›CIA‹ und den Bezirk ›Pentagon‹. Und so gab es bei ihm ›Kolja Pentagon‹ oder ›Wasja Pentagon‹ in seinen Kontakten. Und sie haben ihn für zwei Tage ins Gefängnis gesteckt (…), um zu überprüfen (…) In Mariupol ist dies der Bezirk Kurtschatowo und irgendwie … ich weiß nicht einmal, wie er hieß. Kurtschatowo war immer ›die CIA‹, ich habe in ›der CIA‹ gelebt. Und hier ist dieser Bezirk. Ich weiß nicht einmal, wie es normal heißt. Es ist im Kopf aller Bewohner von Mariupol wie ›das Pentagon‹. (…) Nein, sie haben ihn nicht geschlagen, er hat die ganze Zeit nur in einem Käfig verbracht, nun ja, in einem Gefängnis, dort gibt es einige Einzelzellen. Er saß dort einfach.«
Augenzeugen berichten, dass nach einer erfolgreich bestandenen »Filtration« das Verhalten der Offiziellen etwas menschlicher und zugänglicher wurde. Diejenigen, die sich einer »Filtration« zum Zwecke der Ausreise nach Russland unterzogen, berichten von Freiwilligen, die sie nach dem Verlassen der »Filtrationseinrichtung« mit Wasser, Lebensmitteln und russischen SIM-Karten versorgten. Dabei werden Menschen darauf hingewiesen, dass sie »in Russland Hilfe und auch russische Pässe bekommen können«. Die Einreise zum Verbleib in Russland oder zur Weiterreise in andere Länder ist dann möglich.
Menschen aus umkämpften Gebieten, die in einem »Evakuierungsbus« nach Russland einreisen und keinen festen Zielort in Russland angeben können, werden in russische »Flüchtlingsunterkünfte« verteilt. Den Geflüchteten wird der Zielortort häufig erst nach der Ankunft mitgeteilt, sodass es bis zum Aussteigen ungewiss bleibt, wohin sie gebracht werden. Dies wird von der ukrainischen Seite als »Deportation« ukrainischer Bürger gewertet. Wie im Falle der Internierung von Zivilisten (Art. 42. Genfer Konvention IV), bezieht sich die ukrainische Regierung auf die Genfer Konvention, deren den Artikel 49. IV besagt, dass »eine Ausweisung oder Deportation aus einem besetzten Gebiet gegen den Willen der betroffenen geschützten Personen unabhängig vom Grund unzulässig ist«.
Ohne sich registrieren und erkennungsdienstlich behandeln zu lassen (Erhebung von biometrischen Daten) dürfen ukrainische Bürger aktuell bis zu 90 Tage im Jahr in Russland bleiben, die Bürger der vor kurzem annektierten »Volkrepubliken Donezk« und der »Volksrepublik Luhansk« – bis zu 180 Tage. Um Sozialhilfe und eine Arbeitserlaubnis in Russland zu bekommen, müssen ukrainische Bürger einen »vorübergehenden Schutz« beantragen. Die entscheidende Bedingung bei dieser Prozedur ist die Abgabe des ukrainischen Passes an die russische Migrationsbehörde, bei der dieser aufbewahrt wird, bis der »vorübergehende Schutz« ausläuft. Mit dem Aufenthaltstitel eines Schutzsuchenden ist eine Weiterreise in andere Länder nicht möglich.
Resümee
Primär ist festzustellen, dass das System der »Filtration« vor allem ein Instrument Russlands zur Erfüllung der eigenen Sicherheitsbedürfnisse darstellt. Die beiden beschriebenen Arten der »Filtration« dienen dabei offensichtlich mehreren Zwecken. So ist die »Vor-Ort-Filtration« als Zensus- und Kontrollinstrument hilfreich, um einen Gesamtüberblick über die örtliche Bevölkerung zu erhalten und unter den verbliebenen Einwohnern nach potenziellen Kollaborateuren zu suchen. Gleichzeitig dient diese als Einschüchterungsinstrument gegen diejenigen, die als nicht ausreichend loyal zur Besatzungsmacht erscheinen. Es scheint beabsichtigt, Protestpotenziale in der Bevölkerung früh zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken, um die Gebiete und ihre verbliebene Bevölkerung möglichst reibungsfrei eingliedern zu können.
Die »Grenzübergangsfiltration« scheint vor allem von der russischen Angst vor Sabotageakten in Russland selbst bzw. der besetzten Krim geprägt zu sein. Das Verhalten der russischen Sicherheitskräfte zielt offenbar zugleich darauf ab, eine möglichst hohe innere Anspannung und Einschüchterung bei den Betroffenen zu erzeugen und die Machtverhältnisse in Russland deutlich zu machen. Zugleich werden feindlicher Haltungen verdächtige Personen durch die Filtration »aufgedeckt« und inhaftiert. Ihr weiterer Verbleib bleibt weitgehend unklar und entzieht sich internationalen Rechtsnormen. Da die genauen Zahlen der durch die »Filtration« gegangenen Menschen nicht zuverlässig zu erheben sind, können diese im Text auch nicht verlässlich genannt werden.
Die »Filtration« scheint in ihrem System und Ablauf keinem koordinierten Vorgehen zu unterliegen. Das Verhalten der Vernehmer und Sicherheitsbeamten liegt außerhalb der rechtlichen Rahmung und unterliegt keinen sichtbaren Kontrollmechanismen. Es scheint in weitem willkürlich und vom eigenen Gewissen und der Haltung der Vernehmer abzuhängen. Dies lässt sich an abweichenden Details in den Schilderungen von »Filtrationsprozessen« festmachen, in denen einige fast problemlos, andere hingegen kritisch und lebensgefährlich verlaufen. Immer aber sind Verlauf und Ausgang von Willkür geprägt und absolut unvorhersehbar. Auch die Tatsache, dass in ukrainischen Telegram-Kanälen Tipps verbreitet werden, an welchen Stellen eine »Filtration« weniger problematisch zu sein scheint (so werden die Filtrationsstellen in der inzwischen annektierten »Volksrepublik Donezk« als besonders problematisch beschrieben), stützt diese Sichtweise.
Die rechtlich ungeschützte Lage der fliehenden Menschen, die darauf angewiesen sind, Loyalität vorzuspielen, um die »Filtration« zu bestehen, wird vom russischen Regime zudem auch für Selbstdarstellungszwecke missbraucht. So werden Menschen vor oder nach einer »Filtration« von russischen staatlichen Medien interviewt und gefilmt, um ein Bild der Dankbarkeit gegenüber Russland für eine vorgebliche Rettung zu zeigen.
Die Fixierung auf das Aufspüren »ukrainischer Nazis« mit Fragen nach Verbindungen zu diesen und der Suche nach eindeutigen Symbolen (z. B. durch Tätowierungen), deuten auf ein verzerrtes und von der Propaganda geprägtes Ukraine-Bild bei den russischen Sicherheitskräften hin. Dennoch lässt sich trotz dokumentierter Gewaltanwendung und willkürlichen Internierungen und Inhaftierungen von Betroffenen aus den untersuchten Quellen kein Hinweis auf eine ideologische Rahmung des »Filtrationsprozesses« feststellen, die über die allgemeinen Vorstellungen der russischen Propaganda hinausgeht. Die Fehleinschätzung der tatsächlichen Stimmungslage der betroffenen Personen spiegelt sich in den Hilfsangeboten und dem »milden« Umgang mit Einreisenden nach ihrer »Filtration« wider. Im Vordergrund des Prozesses stehen aber die Sicherheitsbedenken des russischen Regimes, das bei geringstem Verdacht bereit ist, potenzielle Verdächtige unter Missachtung sämtlicher Rechtsnormen zu internieren.
Der gesamte Prozess der »Filtration« ist ein von Willkür, Einschüchterungen und auch Gewalterfahrungen geprägter, rechtsfreier Raum. Dies gilt besonders für diejenigen, die die »Filtration« nicht bestehen und jederzeit mit Freiheitsentzug, der Anwendung von Gewalt oder deren Androhung rechnen müssen. Problematisch ist zudem die Lage vieler ukrainischer Zivilisten, die für ihre Ausreise auf einen »Filtrationsprozess« warten müssen. Ihr zeitlich unabsehbarer Aufenthalt unter freiem Himmel ohne Zugang zu Wasser, Lebensmitteln und Hygieneeinrichtungen ist ein humanitäres Problem, das eines dringenden Zugangs für internationale humanitäre Organisationen bedarf.
Nach der Genfer Konvention gelten unrechtmäßiger Freiheitsentzug und die Folter von Zivilisten zwar als Kriegsverbrechen. Die Ahndung jeglicher Menschenrechtsverletzungen, die im Zuge der »Filtration« stattfinden, ist unter den aktuellen Umständen jedoch praktisch unmöglich. Denn die »Blackbox Filtration« macht zukünftige Ermittlungen schwierig, da die Verantwortlichen oft anonym agieren und der gesamte »Filtrationsprozess« weitgehend undokumentiert und unbeobachtet abläuft.